Newsletter des FiReF

Forum für interdisziplinäre Religionsforschung in Göttingen

Workshop „Sharia in Transition“

Rückblick

Workshop „Sharia in Transition – Religious Authority in the Context of Migration and Medialization, Institut für Soziologie an der Georg-August-Universität Göttingen, 29. und 30. September 2022

Ein Bericht von Mahmud El-Wereny und Patrick Keßler

 

An den letzten beiden Septembertagen 2022 fand an der Georg-August-Universität in Göttingen ein Workshop statt, bei dem sich Islamwissenschaftler*innen, muslimische Theolog*innen und Soziolog*innen aus Europa, Großbritannien und den USA darüber austauschten, welche Einflüsse das Leben von Muslim*innen in der Diaspora und die zunehmende Medialisierung und Digitalisierung auf das islamische Recht und religiöse Autorität haben. Im Fokus standen insbesondere die neuen Möglichkeiten, die den Gläubigen durch die Sozialen Medien einerseits und durch die Angebote an religiösen Ratschlägen – bis hin zu Erteilung von Fatwas – andererseits im Internet zur Verfügung stehen. Erstmals können Gläubige nicht nur passiv die Botschaften religiöser Akteur*innen vor Ort rezipieren, sondern aktiv und weltweit nach bestimmten Themen suchen und sich zudem untereinander darüber austauschen. Dies hat Auswirkungen auf die Art und Weise, wie religiöse Autorität im Islam ausgeübt und wahrgenommen wird. Den Workshop ins Leben gerufen hat Dr. Mahmud El-Wereny, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Religionswissenschaft mit dem Schwerpunkt sozialwissenschaftliche Religionsforschung. El-Wereny organisierte ihn zusammen mit Prof. Dr. Alexander-Kenneth Nagel, dem Inhaber des Lehrstuhls. Dabei freuten sie sich über die freundliche Unterstützung durch die Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung. Der Workshop lief teils in englischer, teils ins deutscher Sprache ab. Einige der Mitwirkenden wurden online über eine Videoleinwand zugeschaltet.

 

Nach der Eröffnungsrede von El-Wereny hielt Prof. Dr. Gary Bunt von der University of Wales Trinity Saint David in Großbritannien seinen Keynote-Vortrag mit dem Titel ‚Allah Algorithm‘ – Looking at Religious Authority Issues and the Internet. Bunt ist Principal Investigator des Projektes Digital British Islam und Co-Investigator des Projektes European Online Islam. Er berichtete von seinen positiven Erfahrungen, die Entwicklungen im Internet von Beginn an als Forscher verfolgen zu können und sprach über den Einfluss, den Algorithmen auf die Erfahrung von Gläubigen haben, die im Internet nach religiösem Rat suchen. Einerseits gebe es islamische Influencer*innen, die den Menschen die Religion nahebringen wollen, andererseits würden viele Gläubige klassische Suchmaschinen nutzen, um Fatwas zu finden. Er nannte in diesem Zusammenhang den Begriff „Scheich Google“ und wies darauf hin, dass die Nutzer*innen durch vermehrtes Suchen hier ebenso in die Filterblase geraten würden wie bei allen anderen Themen. Religiöse Akteur*innen würden ihrerseits sämtliche Kanäle der Sozialen Medien nutzen, wodurch Wissenschaftler*innen eine schier endlose Materialfülle zu interpretieren hätten.

 

Panel I – Moderation: Ali Rida Rizek, PhD

Dr. Ali-Reza Bhojani: The Ordinary Use of Expertise in Religious Knowledge:
Contemporary Shi‘i Practices and Theories of taqlīd
(Department of Theology and Religion, University of Birmingham)

Bhojani ist Absolvent des Al-Mahdi Institute und forscht zu den Zusammenhängen zwischen islamischer Rechtstheorie, Theologie und Ethik. In seinem Vortrag betonte er, dass religiöse Autorität immer mit einer Person verknüpft sei. Der taqlīd sei eine normale, rationale soziale Konvention. Dem legte Bhojani ein Autoritätsverständnis nach Max Weber zugrunde, nach dem aus dem überlegenen Wissen der Gelehrten ihre Autorität gegenüber den Lai*innen hervorgeht. Manche Menschen würden den taqlīd einhalten, weil sie sonst ein schlechtes Gewissen hätten. Letztendlich gehe es bei der Befolgung der religiösen Regeln um das eigene Gewissen. Dies sei die eigentliche Bedeutung des taqlīd. Weiter betrachtete Bhojani Medialisierung und Migration als wichtige, aber nicht ausreichende Bedingungen für die Entstehung unterschiedlicher Praktiken der Regelbefolgung seitens der Gläubigen. Zum Schluss stellte er fest, dass es zwar keinen direkten Konflikt zwischen der Autorität der Gelehrten und der praktischen Umsetzung von religiösen Regeln durch die Lai*innen gebe, jedoch verschiedentliche Gegensätzlichkeiten.

 

Lara-Lauren Goudarzi-Gereke M.A.: Codification of Shi’i Family Law: Mujtahid vs. State Legislature? (Seminar für Arabistik / Islamwissenschaft II, Universität Göttingen)

Goudarzi-Gereke ist Doktorandin, Forschungsassistentin und Dozentin an der Universität Göttingen und forscht zu familienrechtlichen Entwicklungen in Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit. Sie nahm per Videoschaltung am Workshop teil. Schiitische Lai*innen, so Goudarzi-Gereke, dürften keinen iğtihād betreiben und empfänden dies als Nachteil. Das schiitische Familienrecht sei jedoch in mehreren Ländern in die weltliche Gesetzgebung eingeflossen, so im Irak, in Afghanistan, Bahrain und Kuwait. In den einzelnen Ländern gebe es unterschiedliche Reaktionen; der Tenor sei jedoch, dass religiöse Gesetze und Vorschriften im Zweifelsfall die höherrangige Geltung hätten. Gegebenenfalls müssten religiöse Gelehrte die weltlichen Gesetze auf Konformität mit dem Islam prüfen, bevor diese in Kraft treten könnten. Im gleichen Zuge, so berichtete Goudarzi-Gereke weiter, gebe es eine Diskussion darüber, ob staatliche, also weltliche Richter*innen auch Religionsgelehrte sein müssten, um ihr Amt in Konformität mit den islamischen Vorschiften ausüben zu können.

 

Panel II – Moderation: Maham Naseer M.A.

Prof. Dr. Sahar Khamis: Cyber Islam and the Reconstruction of Religious Authority in the Diaspora (Associate Professor of Communication, University of Maryland)

Die ehemalige Leiterin der Abteilung für Massenkommunikation an der Universität Qatar ist Expertin für arabische und muslimische Medien. Sie wurde online aus den USA zugeschaltet. Khamis nannte drei wesentliche Herausforderungen für die Umma: Demokratisierung, Diaspora und Dialog. Mit letzterem sei insbesondere der Dialog mit Nicht-Muslim*innen nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 gemeint. Die Erteilung von Fatwas über das Internet, so Khamis, verändere die Form der religiösen Autorität und eröffne neue Möglichkeiten. Gleichzeitig bringe die Anonymität im Netz und die schiere Masse der Angebote ein Problem mit sich: Wie sollen Rat suchende Gläubige erkennen, ob die Betreiber einer Website überhaupt berechtigt und qualifiziert sind, Fatwas zu erteilen? Gerade die etablierten Religionsgelehrten hätten zu Beginn des Zeitalters Sozialer Medien nicht die erforderlichen technischen Kenntnisse und Fähigkeiten gehabt, um online effektive Angebote zu machen. Dieses Problem sei aber inzwischen überwunden. Als Beispiel hierfür nannte sie das Tragen von Kleidung in bunten Farben oder Schmuck in Kombination mit dem Niqab bzw. das Veröffentlichen von Bildern hiervon.

 

Dominik Müller M.A.: Sohbet 2.0: Islamic Authority and the Digital Turn (Universität Freiburg, Schweiz; FAU Erlangen Nürnberg)

Müller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa, welches zur Friedrich-Alexander-Universität gehört. Neben Digital-, Religions- und Wirtschaftsanthropologie gehören der Islam in Europa und religiöse Autorität zu seinem Forschungsgebiet. Er stellte seine Fallstudie einer muslimischen Religionsgelehrten vor, die in den Sozialen Medien aktiv ist und als „Internet-Hoca“ bezeichnet werde, was als Kompliment gemeint sei. Sie werde als Frau an ihrem Arbeitsplatz bei der Swiss Diyanet Foundation aber trotz ihrer Qualifikation nicht gleichwertig behandelt. Die Frau habe eigentlich nur deshalb das islamische Theologiestudium in der Türkei absolviert, weil sie keine Zulassung zum Medizin- oder Jurastudium bekommen habe, berichtete Müller. Nun reise sie als mobile Predigerin von Moschee zu Moschee, bleibe aber gleichzeitig über Soziale Medien mit ihren Anhänger*innen in Kontakt; es gebe sogar eine Online-Sprechstunde. Sie nutze also digitale Medien als Ergänzung der persönlichen Interaktion. Im Internet poste sie ihre Beiträge auf Englisch, um möglichst viele Menschen zu erreichen. Eine Strategie der Anpassung erachte sie als sinnvoller, als die Menschen mit Regeln zu überfrachten.

 

Lino Klevesath M.A.: The Pluralization of Claims to Authority: Interpreting Islamic Norms in Countries with a Non-Muslim Majority (Universität Göttingen)

Klevesath ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung. Dort ist er im Forschungsprojekt ‚FoDEx‘ für den Themenbereich ‚Radikaler Islam‘ verantwortlich. Sein Beitrag fußte auf der Annahme, dass Autorität ganz unterschiedliche Bedeutungen haben und aus unterschiedlichen Richtungen betrachtet werden kann. Als Beispiel nannte er das Konzept der akzeptierten Abhängigkeit nach Horkheimer – Autorität müsse nicht immer ein Zwang sein. In der prägenden, frühen Phase des Islam hätten Kadis die Möglichkeit gehabt, bei Bedarf mehrere Muftis unterschiedlicher islamischer Rechtsschulen zu konsultieren, um die Lösung für ein Problem zu finden. An diesem Beispiel zeigte Klevesath auf, dass sich die islamische Normfindung im Zeitverlauf verändere. Dies geschehe auch durch den Einfluss von Demokratie und Religionsfreiheit in Ländern mit nichtmuslimischer Bevölkerungsmehrheit. In diesen Ländern würden religiöse wie andere Themen insbesondere im Internet von zahlreichen unterschiedlichen Akteur*innen diskutiert. Auch Nicht-Muslim*innen – darunter Politiker*innen und Medienschaffende erhöben den Anspruch auf die Autorität, verbindliche Aussagen über die Normen des Islam zu treffen.

 

Der zweite Workshop-Tag begann mit dem Keynote-Vortrag von Prof. Dr. Rüdiger Lohlker. Lohlker hat den Lehrstuhl für Islamstudien am Orientinstitut der Universität Wien inne. Sein Vortag mit dem Titel Transformations of Authority Online umfasste zahlreiche Beispiele für neue Formen religiöser Autorität, die über das Internet ausgeübt würden. Angeführt wurden Fatwa-Datenbanken wie die der Assembly of Muslim Jurists of America. Hier finde man eine Fatwa, die medizinische Injektionen während des Ramadan erlaube, da diese nicht in das Verdauungssystem gelangen. Es gebe zahlreiche weitere solcher Datenbanken, berichtete Lohlker, bezeichnete diese aber als problematisch, da man oft nicht nachvollziehen könne, wer sie betreibe und wer die Fatwas erstelle. Weiter sprach der Professor über islamische Influencer*innen in den Sozialen Medien, die diese Kanäle nutzen würden, um Daʿwa zu betreiben. Sie würden all das tun, was andere Influencer*innen auch tun und zusätzlich die religiösen Inhalte mit einflechten. Diese religiösen Influencer*innen würden jedoch teils von anderen Akteur*innen für ihre Tätigkeit bezahlt.

 

Panel III – Moderation: Lino Klevesath M.A.

Canan Bayram M.A.: Zur Rolle religiöser Autorität in der COVID-19-Pandemie – Der Theologische Beratungsrat der Islamischen Glaubensgemeinschaft Österreich (IGGÖ) als Fallstudie (Institut Islamische Religion, Kirchliche Pädagogische Hochschule Wien/Krems)

Bayram bildet als Dozentin zukünftige muslimische Religionslehrer*innen aus und war zuvor wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Akademie der Weltreligionen in Hamburg. Sie berichtete über die Arbeit der Islamischen Glaubensgemeinschaft Österreich (IGGÖ), die als Körperschaft öffentlichen Rechts Vertretung der in Österreich lebenden Muslime und für die Verwaltung der religiösen Belange zuständig ist. Innerhalb der IGGÖ gebe es das Amt des Muftis, der gewählt werde und dem Theologischen Beratungsrat vorsitze. In diesem Rat säßen Vertreter der verschiedenen islamischen Kultusgemeinden in Österreich. Der Theologische Beratungsrat erhalte in Krisen wie der Pandemie besondere Bedeutung, da er z.B. die Freitagsgebete gestrichen und dies gegenüber den Gläubigen auch religiös mit der Gesundheitsgefahr begründet habe. Letzteres sei erforderlich gewesen, damit die Menschen wirklich zu Hause bleiben würden. Hierdurch würde zum einen Gläubigen geholfen, denen ihr Gewissen den Moscheebesuch vorschreibe. Zum anderen sei es eine Form von Empowerment und Powersharing, dass Frauen, die ihre Spiritualität hauptsächlich zu Hause ausleben, diese Erfahrung mit ihren männlichen Angehörigen nicht nur teilten, sondern sie darin auch unterstützten.

 

Dr. Assem Hefny: Soziale Medien und religiöse Autoritäten in Ägypten: Wechselwirkung und Machtverhältnisse (Centrum für Nah- und Mittelost-Studien, Universität Marburg)

Hefny forscht unter anderem zu Sprache und Politik des Islam sowie zu dem Verhältnis von Islam und Herrschaft. In Ägypten, so Hefny gebe es staatliche Institutionen für die Religion und speziell für die Erteilung von Fatwas. Das Ministerium für religiöse Stiftungen und islamische Angelegenheiten sowie das Fatwa-Haus seien ein Teil des Justizministeriums. Die Al-Azhar hingegen sei als religiöse Institution nur teilweise vom ägyptischen Staat abhängig, da sie auch Geld von anderen Staatsregierungen erhalte. Daneben, so berichtete Hefny, gebe es in Ägypten auch unabhängige Prediger. Viele dieser Akteur*innen würden Soziale Medien nutzen, um die Gläubigen zu erreichen. Die Sozialen Medien seien inzwischen als „Soldat Gottes“, also als probates Mittel der Verbreitung des Glaubens anerkannt. Außerdem böten sie den Gläubigen die Möglichkeit, sich selbst zu informieren, statt auf die Aussagen lokaler Gelehrter angewiesen zu sein. Prediger, so Hefny weiter, würden über das Netz Prominentenstatus erlangen. Ihre Gesichter seien überlebensgroß auf Plakaten in den Straßen zu sehen.

 

Imam Mounib Doukali: Imame als Autorität im Spannungsfeld von Theologie, Beratung und Seelsorge (Schura Hamburg)

Der Imam Mounib Doukali gehört als stellvertretender Vorsitzender und Dialogbeauftragter zum Vorstand der Schura, des Rates der Islamischen Gemeinschaften in Hamburg. Das Fatwa-Wesen, so berichtete er, sei ein kollektives Mittel der islamischen Bildung und damit eine kollektive Pflicht. Ein Mufti sei quasi ein Nachfolger des Propheten und müsse dementsprechend aufrichtig und gebildet sein. Neben den rund 60 Prozent der Mustaftis, die religiöse Fragen hätten, kämen die Menschen auch mit anderen Problemen zu Muftis und Imamen. Denen fehle aber die Ausbildung für eine psychosoziale Beratung oder gar psychologische Behandlung. Es könne sogar zur Verschlimmerung solcher Probleme führen, wenn versucht würde, sie mit einer Fatwa zu regeln, statt sich mit den Hintergründen zu befassen. Doukali zufolge hätten Imame sehr große Autorität und ihre Aussagen entsprechend große Auswirkungen. Sie müssten sich daher im Vorfeld genaue Gedanken machen.

 

Panel IV – Moderation: Dr. Thorsten Wettich

Fatma Akan Ayyıldız M.A.: Autoritätswahrnehmungen im Islam – Eine Diskussion zur Sündlosigkeit von Propheten und Imamen (Berliner Institut für Islamische Theologie, Humboldt Universität Berlin)

Fatma Akan Ayyıldız ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Islamisches Recht am Berliner Institut für Islamische Theologie. Sie betrachtete die Entstehung von religiöser Autorität aus der Perspektive der ʿiṣma-Lehre, also der Frage, ob Propheten und Imame sündlos seien. In diesem Rahmen stellte sie die Ausführungen von Sayf ad-Dīn al-Āmidī (gest. 631/1233), einem asharitischen Gelehrten, der u.a. in Bagdad, Damaskus und Kairo seiner Zeit gewirkt hat, vor. Al-Āmidī gehe zunächst davon aus, dass die sogenannten Prophetenwunder eine Art „göttliche Bestätigung“ dessen seien, was Propheten von Gott vermitteln würden und dass sie hierbei nicht lügen würden. Im Gegensatz zur Mehrheitsmeinung seien allerdings andere Sünden oder Fehlverhalten laut al-Āmidī auch für Propheten nicht auszuschließen. Es fehle sowohl an rationalen als auch an textuellen Hinweisen, die eine generelle Sündenlosigkeit belegen könnten. In dieser Diskussion sieht Ayyıldız eine Anschlussfähigkeit für eine umsetzbare Autoritätsvorstellung im Hinblick auf gegenwärtige Autoritäten wie Imame und Gelehrte.

 

Samira Ghozzi-Ben Miled M.A.: Die Konstruktion mentaler Gesundheit auf Instagram unter muslimischen Akteur*innen – Erste Einblicke in das Forschungsfeld (Institut für Religionswissenschaft und Religionspädagogik, Universität Bremen)

Ghozzi-Ben Miled ist Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Medien und Literaturen der Religion. Zurzeit forscht sie zur Konstruktion mentaler Gesundheit unter Muslim*innen auf Instagram und vergleicht hierfür deutschsprachige und tunesischsprachige Akteur*innen. In ihrem Vortrag berichtete sie von ihrer Forschung, wie mentale Gesundheit auf Instagram konstruiert wird, also wie auf der Plattform über das Thema gesprochen wird. Ghozzi-Ben Miled konstatierte, dass im Zusammenhang mit mentaler Gesundheit auf Instagram oft Legitimationen der Influencer*innen in Form von Zertifikaten von deren Follower*innen eingefordert werden. Bei einer Vielzahl tunesischsprachiger muslimischer Akteur*innen werde mentale Gesundheit nur selten mit religiösen Inhalten verknüpft, bei deutschsprachigen muslimischen Akteur*innen hingegen in größerem Maße. Auch in wissenschaftlichen Diskursen rückten unter muslimischen Wissenschaftler*innen neben westlichen Konzepten mentaler Gesundheit immer mehr Verknüpfungen zu islamischen Konzepten der Psychologie in den Fokus.

 

Rosa Lütge M.A.: Zwischen Self-Care und Empowerment – Normative Aushandlungen über Psychologie und Religion in muslimischen Onlinemagazinen (Institut für Religionswissenschaft und Religionspädagogik, Universität Bremen)

Lütge ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin im Arbeitsbereich Empirische Religionsforschung und Theorie der Religion. In ihrem Vortrag ging sie von einem Foucaultschen Verständnis von Normierung aus. Subjekte bestünden also nicht von vornherein, sondern würden erst in sozialen Machtbeziehungen konstituiert. Diskurse über mentale Gesundheit und ‚self-care‘ – in muslimischen Onlinemagazinen – würden sich demnach eignen, um Normen rund um Gesundheit und Vorstellungen von einem guten Leben zu untersuchen. Zwischen Religion und Psychologie gibt es nach Lütge in den Onlinemagazinen eine Verflechtung: Gott wolle, dass die Menschen sich wohlfühlen, und religiöse Techniken und Motive würden für individuelles Wohlbefinden genutzt werden. Dabei werde das Subjekt immer wieder – ähnlich zu zeitdiagnostischen Diagnosen der neoliberalen Individualisierung – aktiviert, für sich zu sorgen und sich selbst zu verwirklichen. Dies sei allerdings ein ambivalenter Prozess, da religiöse Motive neoliberale Vorstellungen von Verantwortung abfedern würden und besonders weibliche Vergemeinschaftung und Politisierung stattfände.

 

Die Abschlussbemerkungen machte Alexander-Kenneth Nagel. Er sprach über den Zusammenhang von Form und Inhalt. Die digitalen Medien würden zur Kürze zwingen. Diese Kürze sowie die ästhetischen Dimensionen der digitalen Medien wie beispielsweise TikTok müssten aus einer sprachgeschichtlichen Perspektive betrachtet werden. Außerdem müsse man die Infrastruktur des Netzes und der Algorithmen beachten, um mit den eigenen Äußerungen in den Neuen Medien die gewünschte Wirkung zu erzielen. Die Überschneidungen von Online- und Offline-Interaktionen müsse erforscht und systematisiert werden. Außerdem müsse man hierbei die medienübergreifenden Strategien sowohl der Anbieter*innen als auch der Nutzer*innen von religiöser Beratung berücksichtigen. Nagel ging auch auf die unterschiedlichen Formen von Autorität ein, die über diese Medien ausgeübt werden können. Es gebe nicht nur die Autorität der Gelehrten, der sich die Gläubigen freiwillig unterwerfen würden, sondern sie könnten selbst Autorität gewinnen, indem sie sich durch die Nutzung Sozialer Medien selbst zu Akteur*innen machen. Nagel erinnerte noch einmal an die Einflüsse, denen islamisches Recht ausgesetzt sei, wenn es in die weltliche Gesetzgebung übernommen werde. Außerdem beschrieb er die Situation, dass Menschen im Netz nach Fatwas suchen und verschiedene religiöse Akteur*innen ebenso verschiedene Lösungen anbieten würden, als eine Form des Marktes, der von Angebot und Nachfrage bestimmt werde. Im Anschluss folgte eine rege Diskussion, bei der unter anderem die Reichweite und die sprachlichen Chiffren digitaler Medien noch einmal thematisiert wurde. Die Sozialen Medien seien eine Zwischenform von Personen- und Massenmedien, da die Anbieter*innen klassischer Massenmedien nun auch personalisierte Angebote machen würden. Insbesondere in der Forschung zum Islam läge der Fokus zurzeit noch zu sehr auf der Seite der Angebote und weniger auf der Seite der Rezeption durch die Gläubigen. Außerdem blieb die Frage offen, welche Form der Beziehung zwischen Anbieter*innen und Rezipient*innen das ‚Folgen‘ in Sozialen Medien darstellt und welche Auswirkungen die unterschiedlichen Reaktionsmöglichkeiten wie Emoticons und Kommentarfunktionen auf diese Beziehung haben.